Liebe Leserin, lieber Leser,
in den siebziger Jahren hatte ich eine Zeitlang an meiner Bürotür ein Poster hängen mit der Aufschrift "Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen" (Matthäus 5,5). Ein Geschäftsmann, mit dem ich oft zu tun hatte, sprach mich daraufhin an und meinte: "Das kann doch nicht funktionieren. Wenn wir unsern Gegnern nicht die Zähne zeigen, tanzen sie uns auf der Nase herum – politisch, geschäftlich wie privat." Es ging damals aber nicht um das persönliche Verhalten, sondern um den Kalten Krieg zwischen dem "freien Westen" und dem kommunistischen Osten. USA und Sowjetunion versuchten mit Wettrüsten, Erfolgen in der Raumfahrt und in der Wirtschaft einander in die Knie zu zwingen, was den USA vor zwei Jahrzehnten schließlich gelungen ist. Ist die Welt seitdem besser geworden? Wenn ein Feind erledigt ist, schafft man sich den nächsten.
Jesus hat uns einen anderen Weg gelehrt. Das zeigt nicht nur der Spruch auf meinem Poster von damals, sondern auch die Jahreslosung mit einem Wort von Paulus. Wir können das Böse nicht überwinden, indem wir ihm Widerstand entgegensetzen, denn dann schaukeln wir einander genauso hoch wie damals die Großmächte. Ein böses Wort gibt das andere, wenn die Worte nichts mehr nützen, sprechen die Fäuste oder die Anwälte. Und selbst ein Richter- oder Schlichterspruch ist keine Gewähr dafür, dass jetzt endlich Frieden einkehrt.
Neulich haben wir an den Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt in Warschau gedacht, der die Versöhnung mit unsern östlichen Nachbarn einleitete. Brandt hat niemand in die Knie gezwungen und wurde von niemand gedemütigt, sondern hat das aus freien Stücken getan. Ich bitte euch, passt das zu einem Bundeskanzler? Was werden die Leute sagen, wenn ihr Regierungschef freiwillig in die Knie geht? Macht er sich und unser Land damit nicht lächerlich? Ich brauche nicht viel zu schreiben, die Wirkung dieser Geste ist bekannt. Sie hat nicht nur sein Ansehen, sondern auch das unsres Landes gestärkt.
Nun, das war ein Sonderfall, der sich nicht auf jede Situation anwenden lässt. Das kann man machen, wenn man jemand bitteres Unrecht getan hat. Bei Fingerhakeln, Konkurrenzkampf oder Wettrüsten muss man dagegen halten und darf nicht vorzeitig aufgeben, oder? Paulus meint etwas anderes, wenn er schreibt "Lass dich nicht vom Bösen überwinden", weder von bösen Menschen noch von bösem Willen und bösen Taten. Lass dich nicht hinreißen, selbst Böses zu tun und selbst böse zu werden. "Sondern überwinde das Böse" – womit? Nicht mit einem Kniefall, sondern "mit Gutem".
Es hilft schon viel, wenn wir innerlich stark sind und uns nicht beeindrucken lassen. "Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter." Sie lässt sich vom Gekläff nicht provozieren.
Sich mit Hunden auseinandersetzen ist Zeitverschwendung. Ihnen Knochen vorwerfen, damit sie Ruhe geben, bringt auch nichts, dann betteln sie das nächste Mal und meinen, sie hätten einen Anspruch darauf. Wir können uns auch dadurch in einen Teufelskreis hineinmanövrieren, dass wir Hunde fürs Schnauzehalten belohnen und Schlägern Schutzgebühren zahlen. Nein, da hilft nur eins: das Kläffen ignorieren.
Aber eigentlich ist ignorieren eine Art Verachtung und passt nicht zur Liebe Gottes. Wie ist das mit dem zweiten Teil "sondern überwinde das Böse mit Guten"? Bisher ging es immer darum, wie und ob wir auf eine Provokation reagieren. Wir sollen aber nicht reagieren, sondern von uns aus Gutes tun. Es gibt genug andere Gelegenheiten, bei denen wir zu Hunden oder bösen Menschen freundlich sein können.
Das schaffen wir aber nur, wenn wir uns von der Liebe Gottes erfüllen lassen. Nur so werden wir das, was bei der Schöpfung bereits vorgesehen war: "Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde". Darum "Werde, was du bist": ein Abglanz der Liebe Gottes.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner