Liebe Leserin, lieber Leser,
viele haben mit der Organisation Kirche Schwierigkeiten. Sie können ihre religiösen Ideale nicht ohne weiteres mit dem vereinbaren, was sie in der Ortsgemeinde oder Landeskirche vorfinden. Da ist der geistliche Vorrang, den der Pfarrer auch in der evangelischen Kirche hat; er repräsentiert einen Frömmigkeitsstil, zu dem sich nur ein Teil der Gemeinde bekennt. Da ist die herkömmliche hessische und örtliche Mentalität, mit der Neuzugezogene nicht zurechtkommen. Da ist das Eigenleben der kirchlichen Organisation, zu dem Außenstehende nur schwer Zugang finden. Da ist das Übergewicht eines Verwaltungsapparates, bei dem man wohl vergeblich nach christlichen Grundsätzen fragt. Die Kirche, ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Durchschnittsmenschen - keine Spur von der ursprünglichen elitären Gemeinschaft der Gläubigen. Was Wunder, wenn Sekten und religiöse Splittergruppen regen Zulauf haben! Was Wunder, wenn junge Menschen vergeblich in der Kirche eine geistliche Heimat suchen! Was wir heute schwer verstehen ist, warum Christus sich gerade an solche unvollkommenen und fehlerhaften Menschen und Gemeinden bindet mit seiner Zusage: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen."
Hier haben wir es mit dem unergründlichen Geheimnis der Menschwerdung Gottes zu tun, an die wir uns schon längst gewöhnt haben. Ganz plötzlich wird uns die ganze Ärgerlichkeit dieser Botschaft klar, an der die Feinde Christi sofort Anstoß genommen haben: Der vollkommene und ewige Gott nimmt Gestalt an in unvollkommenen menschlichen Strukturen. In sündhaften Menschen und fehlerhaften Organisationen begegnet uns die Herrlichkeit Gottes. Christus bindet sich an Menschen mit allen ihren Fehlern und nimmt Gestalt an in Kirchen, mit denen wahrhaftig kein Staat zu machen ist. Ich sage bewusst "Kirchen", denn zur menschlichen Unvollkommenheit gehört, dass wir unfähig zur Einheit sind, und zur Unbegreiflichkeit des einen und unteilbaren Christus gehört, dass er mit unseren Bruchstücken von Kirchen vorliebnimmt, egal, ob sich diese Gemeinschaften CVJM oder katholisch oder evangelisch oder orthodox oder methodistisch oder adventistisch oder neuapostolisch oder sonst wie nennen. Ich liebe meine Kirche, weil ich hinter all dem Unvollkommenen in ihr Christus finde. Christus bindet sich nicht an Gedankenkonstruktionen und blutleere Hirngespinste, sondern an konkrete Menschen und an konkrete Gemeinden.
Er stellt als einzige Bedingung, dass wir in seinem Namen zusammenkommen. Wo man ihn nicht haben will und sich nur in kirchlichen Räumen trifft, da bleibt er draußen; Er will mit dabei sein, aber er drängt sich nicht auf.
Hier muss die Kirchenkritik und die Kirchenreform anfangen, lieber Leser: nicht am Dach oder am Turm, sondern wir uns fragen: Inwiefern werden wir dem Anspruch, die Verkörperung des auferstandenen Christus zu sein, noch gerecht? Wo gestalten wir nur noch unsere Freizeit, statt uns im Namen Christi zu versammeln? Wo suchen wir Selbstbetätigung und Selbstbestätigung, statt dass wir nach Christus fragen?
Wo geht's uns nur noch ums Geldverdienen für einen guten Zweck und nicht mehr um den, nach dem wir uns benennen? Über die Kirche schimpfen ist leicht. Fragen wir uns lieber: Wie schaffen wir's, dass Christus in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns rückt?
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner