Liebe Leserin, lieber Leser,
als ich 17 war, wollte ich Missionar werden. Meine Mutter hat mir's ausgeredet. Als ich 18 war, wollte ich Lehrer werden. Die Berufsberatung hat mir's abgeraten. Als ich 19 war, begann ich Pfarrer zu studieren. Mein Religionslehrer hatte mir gut zugeredet. Damit wurde ich auch Lehrer und sogar Missionar - im eigenen Land. Nicht bei den andersgläubigen Mitbürgern, sondern bei meinen Gemeindegliedern. Deutschland ist zum Missionsgebiet geworden.
Die Liste derer, die ich bekehrt habe, ist leer. Ich konnte einige für Kirche und CVJM gewinnen und zur Mitarbeit bewegen. Manchmal waren sie nur eine Zeitlang dabei und sind wieder abgesprungen, manche sind heute noch aktiv. Aber spektakuläre "Missionserfolge" kann und will ich nicht aufweisen. Denn der Weg durch Jesus Christus zu Gott ist lang und mühsam und wir kommen immer nur schrittweise voran, bleiben auf dem "rechten Weg" und kommen manchmal doch nicht zum Ziel oder verlaufen uns und finden das Ziel trotzdem. Der erste Schritt muss gemacht werden, aber wir können uns dann nicht stolz hinsetzen und sagen: "Ich habe den ersten Schritt getan, ich habe mich bekehrt." Der Weg ist nicht das Ziel, aber er führt zum Ziel, und es kommt darauf an, dass wir ihn gehen und uns nicht mit Zwischenetappen zufrieden geben.
Unserm CVJM Reinheim ist die "missionarische Jugendarbeit" in die Wiege gelegt worden. Edwin Suckut hat Ende der 70er-Jahre als Dekanatsjugendwart das zur Leitlinie seiner Arbeit gemacht und ich habe ihn als Dekanatsjugendpfarrer darin unterstützt und stehe heute noch dazu: Wir können uns nicht damit begnügen, die uns anvertrauten jungen Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, sondern wir haben die Pflicht, sie mit dem Evangelium vertraut zu machen. Wir vererben ihnen ja auch ungefragt unsre Staatsbürgerschaft und bringen ihnen unsre Muttersprache bei, ohne zu überlegen, ob es nicht vielleicht vorteilhafter sein könnte, wenn sie zuerst Chinesisch lernen. Wir lehren sie mit Messer und Gabel zu essen und karren sie mit dem Auto überall hin, damit sie ja nichts versäumen. Und trotzdem haben wir eine merkwürdige Scheu davor, sie zu Christen zu erziehen.
Gewiss ist es nicht richtig, Kinder auf einen bestimmten Weg zu zwingen. Wenn ihnen etwas Anderes im Blut steckt, werden sie trotzdem ihren eigenen Weg gehen, im Guten wie im Bösen. Aber es wäre ein Verbrechen unsern Kindern gegenüber, wenn wir nur nach dem Motto handeln würden: "Werde, der du bist." Eine Glaubensgemeinschaft, die versäumt ihrem Nachwuchs die eigenen Glaubensgrundsätze beizubringen, verspielt ihrer Zukunft. Aus diesem Grund stehe ich immer noch zur "missionarischen Jugendarbeit".
Der auferstandene Jesus befiehlt im Monatsspruch aber nicht, die eigenen Kinder christlich zu erziehen, sondern "in die ganze Welt" hinauszugehen und das Evangelium zu verkünden. Unter seinen jüdischen Landsleuten hat Jesus ja selbst schon gewirkt und seine Jünger auf Missionsreisen durch Galiläa geschickt. Jetzt wird dieser Auftrag ausgeweitet auch auf die nichtjüdischen Völker, die ihre eigene Religion hatten. Auch das ist heute nicht mehr gern gesehen. Zu sehr war die Heidenmission mit den Eroberungen der Weißen verknüpft, zu unangenehm die Erinnerungen an die Kolonialzeit. Aber dürfen wir deswegen das Kind mit dem Bad ausschütten? Viele Missionare waren eben nicht Handlanger der Eroberer, sondern haben sich eingesetzt für die Rechte der "Eingeborenen" und sich bemüht, deren Sprache und Kultur zu verstehen und zu erhalten. Schon die ersten Missionare wie Paulus konnten nicht bloß predigen, sondern mussten auch diskutieren und sich mit den Gedanken ihrer Gesprächspartner auseinandersetzen. Das Urchristentum hat vieles aus der heidnischen griechischen Philosophie übernommen. Mission war also von Anfang an kein Überstülpen, sondern Auseinandersetzung mit fremden Glaubensinhalten, ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Es kann nicht "jeder Christ ein Missionar" sein. Denn dazu gehört Sachkenntnis und Fingerspitzengefühl. Und trotzdem kann "jeder Christ ein Missionar" sein: indem er durch sein Verhalten überzeugt und nicht bloß fromme Worte im Mund führt. Als allererstes müssen wir uns selbst bekehren, nicht im oberflächlichen Sinn, sondern in die Tiefe gehend. Das ist eine Lebensaufgabe, mit der wir nie zu Ende kommen.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner