Liebe Leserin, lieber Leser,
kennt ihr das? Im Supermarkt steht ein Kind vor verlockenden Süßigkeiten oder Spielsachen: "Papa, kauf mir das." Er sagt nein. Das Kind bittet und bettelt und quengelt und schreit. Was wird der Vater tun? Nachgeben oder hart bleiben? Wenn er bei seinem Nein bleibt und mit dem Kind darüber spricht, wird es bald merken, dass man nicht alles haben kann, und sich zufrieden geben. Wenn er immer nachgibt, zieht er einen kleinen Wutbürger heran, der gelernt hat, dass man mit solchen öffentlichkeitswirksamen Auftritten etwas erreichen kann. Und als Erwachsener noch mehr in Wut geraten, wenn es nicht nach seinem Kopf geht.
Jesus sagt aber etwas ganz anderes: Gott ist zu uns wie ein Vater, der seinem Kindern Brot und Fisch gibt, wenn sie ihn darum bitten. (Matthäus 7,10). Er ermutigt uns im Monatsspruch: "Bittet, so wird euch gegeben" und lehrt uns im Vaterunser zu beten: "Unser tägliches Brot gib uns heute." Wir müssen nicht quengeln und unverschämt werden wie die Witwe im Gleichnis, denn Gott weiß ja und gibt, was wir brauchen: Brot, nicht Schokolade (Lukas 18,1-8).
Dazu fällt mir eine Szene ein aus einem Roman: Ein reicher Geschäftsmann will einen Konkurrenten in die Knie zu zwingen und dessen Firma übernehmen. Vor der entscheidenden Verhandlung fällt er mit seinen Mitarbeitern auf die Knie und betet mit ihnen laut um Erfolg. Und den hat er auch.
Wer es darauf anlegt, seinen Willen mit allen Mitteln durchzusetzen, wird Erfolg haben, mit oder ohne Gebet. Im alten Rom hat ein gewisser Cato jede Rede im Senat mit dem Hinweis beendet: "Ich meine übrigens: Karthago muss zerstört werden." Er hat nicht zu den Göttern gebetet oder den Senat bestürmt, sondern so lange seine Meinung gesagt, bis er's selbst und schließlich auch das Gremium geglaubt hat. Es hätte dieselbe Wirkung gehabt, wenn der Geschäftsmann ein paar Mal am Tag mit seiner Belegschaft skandiert hätte: "Nieder mit der Konkurrenz!"
Ich selbst habe gerade gestern wieder die Erfahrung gemacht, dass ich nicht um alles beten kann. Manche Bitte bleibt mir im Hals stecken. Ich weiß von vornherein: Das hat keinen Sinn. Aber manchmal drängt es mich zum Beten und ich erfahre kurz darauf, dass die Bitte schon vorher in Erfüllung gegangen ist. Ich wusste es nur noch nicht. Beten ist für mich nicht Gott überreden, sondern mich in den Willen Gottes einstimmen.
Welchen Sinn hat es aber zu beten, wenn Gott doch macht, was er will? Meist habe ich ja gar keine besonderen Wünsche. Ich bin auch nicht redselig, so dass ich Gott unbedingt was erzählen müsste. Ich spreche nur Luthers Morgen- und Abendsegen und das Tischgebet und singe vor dem Frühstück ein Lied. Und die Bibellese. Das ist wie ein paar Minuten bei Gott kuscheln, das gibt neue Kraft und ich erfahre, dass Gott noch da ist. Und es ist auch nicht so, dass ich in den langen Pausen zwischen den kurzen Gebeten nicht mit Gott verbunden bin. Ich bin mit ihm wie verheiratet. Ich rede mit meiner Frau auch nicht jede Minute, die wir zusammen sind. Wir können gemeinsam schweigen und die Nähe des anderen genießen.
Dieses wortlose Einverständnis kannte auch Jesus. Die Evangelisten berichten öfter, er habe sich für längere Zeit zum Gebet zurückgezogen. Was hat er da nächtelang getan? Einen Themenkatalog abgearbeitet oder das Gebetbuch durchgeackert? Was hat er denn sonst gemacht? Vielleicht das, was wir heute meditieren nennen. Sich ein stilles Plätzchen suchen, die Gedanken schweifen lassen, bis sie weit weg sind, abschalten, still werden. Aber nicht, damit Gott auch mal was sagen kann. Denn er kann genauso schweigen wie ich. Wir sitzen nur einträchtig beieinander und gucken zu den Sternen. Er ist nicht dort oben, sondern bei mir, mit mir, in mir. Er ist auch in mir, wenn ich den Kopf voll habe mit anderen Sachen. Ich denke auch an ihn, wenn ich nicht bete oder Andachten schreibe. In seiner Gegenwart fühle ich mich wohl und kann zufrieden sein. Was soll ich da noch bitten und betteln?
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner