Liebe Leserin, lieber Leser,
über manche Menschen kann man nur entsetzt die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Beispiel die Ultraorthoxen in Israel, die nicht wollen, dass Frauen und Männer im selben Bus sitzen, und Mädchen auf der Straße anspucken oder schlagen, weil sie angeblich nicht "züchtig" gekleidet sind. - Auf dem Tempelplatz in Jerusalem und in russischen Klöstern und Kirchen haben Touristinnen in Hosen keinen Zutritt oder müssen sich einen Leihrock drüber ziehen. - In meiner Jugend kursierten Verhaltensregeln "Tanzen an sich ist keine Sünde. Aber tanze mal einer an sich", oder "Wenn Gott gewollt hätte, dass die Menschen rauchen, hätte er sie mit einem Schornstein erschaffen". - Vor ein paar Jahren sagte mir ein Junge: "Meine Mama hat gesagt, Halloween hat Gott verboten". - Am 7.7.77 hielt ich eine Trauung und meine davon gepredigt zu haben, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind. Am Ausgang sprach mich ein Mann an: "Recht haben Sie, Herr Pfarrer. Die Frau muss dem Mann untertan sein." - Kein Kirchenführer kann es sich leisten, bei einem öffentlichen Auftritt nicht den Zeigefinger zu erheben und die Menschen und Völker zu ermahnen.
Du liebe Zeit, was ist denn das für eine verkalkte Welt mit verstaubten Moralvorstellungen! Haben wir denn ganz vergessen, dass uns "Christus zur Freiheit befreit hat" (Galater 5,1)? Hat sich nicht schon Jesus mit den selbstgerechten Sittenwächtern seiner Zeit angelegt?
Paulus schreibt an Menschen, denen die neuen Ideen in den Kopf gestiegen waren: "Wir wissen, dass es keine Götzen gibt und dass man Fleisch von heidnischen Opfern bedenkenlos essen kann." (1. Korinther 8,1-4) Wir haben es verstanden mit der christlichen Freiheit! Das bedeutet doch: "Uns Christen ist alles erlaubt." (10,23) Wir dürfen alles. Wir essen Opferfleisch. Wir finden nichts dabei, dass einer mit der Ex seines Vaters zusammenlebt (5,1) oder zu Prostituierten geht (6,12-18). Das ist christliche Freiheit!
Da muss Paulus, der doch die Freiheit gepredigt hat, seinen Mitchristen mal gehörig die Meinung sagen: "Wir wissen…" – Nein! "Wissen bläht auf, aber die Liebe bessert" (8,1). "Ich darf alles." – Ja, aber "es soll mich nichts gefangen nehmen" (6,12) und "es nützt nicht alles" (10,23). Die Korinther sind wie kleine Kinder, die ihre Grenzen ausprobieren müssen und aus Trotz tun, was verboten ist.
Das hat nichts mit Freiheit zu tun. Ein mündiger und vernünftiger Mensch müsste selbst beurteilen können, was nützlich ist und hilfreich oder widersinnig und schädlich. Ich werde mich hüten, meine Ehe kaputt zu machen, meine Gesundheit zu ruinieren oder unsre Wohnung anzuzünden - nicht "weil's Gott verboten hat", sondern weil das in meinem eigenen Interesse ist. Die meisten Regeln haben doch einen Sinn! Aus Trotz dagegen verstoßen ist kindisch.
Paulus begnügt sich aber nicht mit dem, was für uns selbst gut oder schlecht ist. Daher fügt er hinzu:
"Denkt dabei nicht an euch selbst, sondern an die anderen." Versucht euch in andere Menschen hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Nehmt Rücksicht aufeinander. Wenn man in einer Gruppe geht, ist es nicht gut, wenn die Schnellen vorne weg rennen und die Langsamen nicht nachkommen. Da müssen die Schnellen eben langsamer laufen und sich den Langsamen anpassen. Es wäre aber auch nicht gut, wenn die weniger Fitten absichtlich trödeln und so den Starken ihre Macht zeigen würden. Wir kommen nicht vorwärts, wenn jeder nur denkt: "Denen werde ich's zeigen." Da reicht es aber auch nicht, auch an die anderen zu denken, wie es Paulus fordert. Genauso wichtig ist das gemeinsame Ziel im Auge zu behalten. Das erreichen wir nur, wenn sich jeder Mühe gibt. Die Schnellen müssen sich zügeln und die Langsamen sich beeilen.
Einzelne Bibelsprüche haben den Nachteil, dass man dabei das Ganze aus dem Auge verliert. Ein paar Seiten weiter schreibt Paulus, worauf es ankommt: auf die Liebe (1. Korinther 13).
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner