Liebe Leserin, lieber Leser,
jetzt beginnt wieder der Advent. Der Count down für die Vorweihnachtszeit ist auch schon lange angelaufen. Turnusmäßig konnte man auch dieses Jahr schon nach den Sommerferien die ersten Weihnachtsleckereien kaufen. Jetzt sind nur noch ungefähr vier Wochen bis Weihnachten. Auch dazu läuft der "Count down", abzulesen an den vier Adventskerzen. Merkwürdigerweise zählen wir da nicht rückwärts auf Null, sondern vorwärts von Eins auf Vier. Wir wissen zwar, dass das "fünfte Lichtlein" nicht mehr brennen wird, weil nach der vierten Kerze die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet werden; aber merkwürdig ist das schon, dass es nach "Vier" nicht weiter geht oder Schluss ist, sondern die Vielzahl kommt.
Eigentlich sollte uns Advent ja nicht auf Weihnachten, sondern auf die Wiederkunft Christi einstimmen. Anders als bei den Adventskerzen wissen wir nicht, wann es so weit sein wird. Vier Kerzen ist ja wohl das Äußerste, was wir bereit sind zu warten. Als dann Christus weder bei der fünften noch fünfhundertsten Kerze kam, hat wohl auch der Letzte das Warten aufgegeben. Kaum jemand fragt noch: "Ei wo bleibt er denn?"
Zugegeben, auch ich kann mir nicht vorstellen, wie es zugehen soll, dass Jesus aus dem Himmel zurückkommt. Taucht er plötzlich aus dem Nichts auf? Erscheint eine riesengroße Gestalt am Firmament? Gibt es vielleicht heute schon unerkannt einen Menschen, in dem Jesus wieder auf die Welt gekommen ist?
Danach habe ich überhaupt kein Verlangen. Denn Jesus braucht keinen neuen Körper, weil er schon einen hat, den "Leib Christi" in Gestalt der Gemeinde und in jedem Einzelnen von uns. Es wäre schon viel gewonnen, wenn der Geist Christi Einkehr halten würde in diesem Leib, wenn er Gestalt annehmen würde in jedem von uns, wenn sein Reich unter uns und durch uns Wirklichkeit werden würde. Im Moment sehe ich aber keinen lebendigen Leib Christi, sondern einen verwesenden Leichnam mit vielen abgestorbenen Zellen - einen Zombie, der zwar fleißig arbeitet, in dem aber kein Geist mehr ist. Was ist aus unseren Kirchen und Gemeinden geworden? Woran merken wir, dass der Geist Christi in uns wohnt? Vielleicht genügt es ja schon, wenn Christus in mir selbst wiederkommt. Auch in meinem Körper will der Geist Christi wohnen. Auch mein Körper kann ein Stück des Leibes Christi sein.
Böse Buben hatten an einem Flurkreuz der Christusfigur Hände und Füße abgeschlagen. Daraufhin brachte man ein Schild an: "Christus hat keine Hände, nur unsere Hände. Christus hat keine Füße, nur unsere Füße…" Christus lebt und handelt heute durch uns, die wir seinen Namen tragen. Woran merkt man das?
Es wäre schön, wenn Christus wenigstens in unseren Gemeinden und Gruppen und in uns Christen zu erkennen wäre. Aber er will noch mehr. Er will auch in unserer Welt Gestalt annehmen. Das ist eigentlich gemeint, wenn wir von der Wiederkunft Christi sprechen. Und das scheint am schwersten zu bewerkstelligen. Aber es kann damit anfangen, dass wir dem himmlischen Christus unsere Hände, unsere Füße und unseren Mund zur Verfügung stellen.
Unter dieser Voraussetzung macht es ja Sinn, jeden Sonntag eine Kerze mehr anzustecken statt auf Null zu zählen. Indem ich warte und mich danach ausstrecke, wird es heller in mir und meiner Welt, bis auf einmal durch ein Wunder alle Kerzen am Weihnachtsbaum brennen: Die Vollendung kommt nicht durch allmähliche Steigerung, sondern durch eine plötzliche Wende.
Beim Mauerfall 1989 haben wir eine solche unvermutete und plötzliche "Wende" erlebt. Genau so unvermutet und plötzlich kann Christus mitten in unserer Menschenwelt Wirklichkeit werden. So jedenfalls erwarte ich die Wiederkunft Christi und deshalb feiere ich Advent.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner